Viele Begriffe für viele Lernwege und Familienentscheidungen
Auf unserer Reise und in der Social-Media-Welt begegnen mir die verschiedensten Lebensentwürfe und verschiedensten Formen der Gestaltung von Bildungs- und Lernsituationen. Dabei fällt auf, dass manchmal recht ähnliche Lernsituationen mit unterschiedlichen Begriffe verknüpft werden, manchmal aber auch sehr unterschiedliche Lernsettings mit einem identischen Begriff beschrieben werden. In den meisten Fällen ist eine nähere Beschreibung der Lernprozesse notwendig, damit klar wird, worüber „man eigentlich gerade miteinander spricht“.
Noch komplizierter wird es in einem internationalen Rahmen, wenn Begriffe noch mehr Interpretation zulassen, weil sie z.B. besonders lange schon implementiert sind und sich daher weiter entfalten konnten.
Für Familien, die ihren eigenen Bildungsweg suchen, ist die Begriffsvielfalt manchmal verwirrend und wenig hilfreich. Ich möchte daher kurz ein paar Begriffe nebeneinanderstellen und in meiner Wahrnehmung beschreiben 🙂
Homeschooling – Eltern als Lehrkräfte mit Lernmaterial aus dem Internet?
Der Begriff des Homeschoolings ist in Deutschland besonders durch die Corona-Krise populär geworden. Unterrichtssettings wurden in das häusliche Umfeld verlegt, entweder mit virtueller Begleitung durch die Lehrkräfte, oder durch eine überwiegende Erledigung von Schulaufgaben und auch der Erarbeitung von neuen Unterrichtsinhalten durch die Eltern. Im Grunde bedeutete Homeschooling in Deutschland „nur“ eine Verlagerung des gewohnten Schulunterrichts aus dem Klassenraum in das Kinderzimmer. Inhalte, Methoden und Überprüfungen sollten so gut es ging, übertragen werden. In relativ kurzer Zeit wurden Videoräume (Zoom, MS-Teams, Big Blue Button…) eingerichtet und Distanzlernen zu einer neuen Form der Unterrichtsgestaltung.
Im Kontext von Familien, die nach Bildungsformaten jenseits der Schule suchen, zeichnet sich ein sehr heterogenes Bild dessen, was Homeschooling ist/sein kann oder von den Familien selber so definiert wird.
Die einen nutzen die Komplettangebote einer Online-Schule und die Kinder und Jugendlichen lernen im Wohnmobil, im Ferienhaus oder in der AirBnB-Unterkunft. Die anderen versuchen, eigene Unterrichtssituationen mit festen Zeiten und „Fächern“ im neuen Umfeld zu etablieren. Mitunter stehen dann Eltern an einer Flipchart und versuchen Grammatikregeln, Rechenoperationen oder das Sonnensystem zu erklären. Ergänzt wird dies durch kurze Videos aus dem Internet und Aufgabenstellungen, an die sich die Eltern aus der eigenen Schulzeit erinnern. Eine dritte Gruppe greift auf Angebote von Lernplattformen oder Lernmaterial zurück, lässt den Kindern und Jugendlichen Zeit an Laptop oder Tablet und versucht weitere Lernangebote (Kreativität, Bewegung) zu verbinden. Und daneben und dazwischen gibt es noch unzählige andere Varianten. Für besonders herausfordernd oder problemanfällig halte ich die Variante der Eltern als Lehrer, die zwischen „wir wollen keine Schule“ und „Lernen muss aber sein“ immer wieder schwanken.
In den USA, Kanada und einigen europäischen Ländern ist Homeschooling eine Beschulungsform mit längerer Tradition, jedoch auch mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Innerhalb der USA gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Bundesstaaten und den Optionen die vorgehalten werden. Durch die lange Erfahrung mit Homeschooling haben sich aber Anbieter und Programme für die Begleitung von Homeschooling etabliert. Zudem sind die Schulen vor Ort häufig darauf eingestellt, dass Menschen außerhalb der Schule ihren Bildungsweg beschreiten, und unterstützen mit Material. Akkreditierte Lehrkräfte können in einigen Bundesstaaten als Lehrpersonen im Homeschooling akzeptiert werden.
Wie stark sich die einzelne Familie beim Homeschooling an einem Lehrplan orientieren will/muss, ist abhängig von den Rahmenbedingungen (legal/illegal – mit/ohne Vorgaben….) und auch von der eigenen Idee/dem eigenen Bildungsideal abhängig. Letztlich muss jede Familie ihren eigenen Weg finden und den Begriff des Homeschoolings selber definieren und mit Leben füllen. Eine Diskussion darüber, was Homeschooling ist bzw. nicht ist, ist wenig zielführend. Die Eltern müssen sich auf jeden Fall Ihrer großen Verantwortung bewusst sein und damit verantwortlich umgehen.
Deschooling
Deschooling beschreibt den Prozess des „Wegbewegens“ oder „Herausentwickelns“ aus dem Schulsystem. Er ist ursprünglich als ein Begriff der Systemkritik zu verstehen. Bereits 1971 erschien das Buch „Deschooling Society“ von Ivan Illich, dessen Gedanken von vielen kritischen Pädagogen aufgegriffen und weiterentwickelt worden sind. Illich beschreibt in seinem Buch sein Ideal eines selbstgesteuerten Lerners, der über ein Lern-Netzwerk Zugang zu Wissen, Erfahrungsräumen und sozialen Interaktionen hat. Eine staatlich organisiere Schule braucht es für Illich dazu nicht.
Deschooling ist die grundlegende Voraussetzung, um den Gedanken des Freilernens, oder des Frei-sich-bildens (hierzu bietet sich die Beschäftigung mit Bertrand Stern an), ernsthaft und nachhaltig umzusetzen. Eine gelungener Deschooling-Prozess erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern und Kinder einen entspannten Umgang mit den Herausforderungen, und oft genug Überforderungen, des Unschooling/Freilernens erleben. Der Prozess ist für Kinder und Erwachsene gleichermaßen notwendig. Abhängig vom Alter des Kindes ist er jedoch in erster Linie ein innerer Prozess der Erwachsenen, die üblicherweise auf eine mindestens 10-jährige Schulzeit zurückblicken. Konkret werden im Deschooling-Prozess Routinen, Denkmuster und Glaubenssätze, die bislang durch das Schulsystem repräsentiert wurden, verändert und durch neue Vorstellungen und Überzeugungen ersetzt. Selbstbestimmtes Lernen ist – abhängig von den bisherigen Lernerfahrungen – ein ganz neues Erfahrungsfeld, das in kleinen Schritten „erarbeitet“ werden muss. Oftmals müssen Herausforderungen, wie Langeweile, unklare Tagesstrukturen und eine gefühlte Orientierungslosigkeit überwunden werden. Auch dies gehört zum Prozess des Deschoolings – also nicht nur die Abkehr von einem alten System, sondern auch die Entwicklung und Etablierung eines neues Umgangs mit Lernen.
An dieser Stelle möchte ich gerne noch einmal die Verantwortung der Eltern betonen, die sich oftmals noch stärker von ihren Erwartungen („Das müsste doch eigentlich schon klappen!“),Vergleichen („Ich konnte damals mit 8 schon recht flüssig lesen/schreiben!“) oder Sorgen („Was mache ich, wenn mein Kind nie lesen lernen wird?“) lösen müssen. Diese Fragen sind völlig normal und müssen nicht sofort eindeutig beantwortet oder losgelassen werden. Auch die Frage danach, welches konkrete Ergebnis am Ende des Prozesses stehen soll, lässt verschiedene Antworten zu.
Unschooling und Freilernen
Unschooling bzw. Freilernen meint zunächst einmal ein Aufwachsen von jungen Menschen ohne einen von außen stark strukturierten oder, z.B. durch staatliche Regelungen, verordneten Bildungsweg. Das ist aber auch fast schon die einzige Schnittmenge, auf die sich Menschen, die sich für einen solchen Bildungsweg entschieden haben, einigen können. Unschooling ist der Begriff im anglo-amerikanischen Raum, der dort schon eine gewisse Tradition hat und daher weitgehend akzeptiert wird. Im deutschsprachigen Raum ist die Gruppe der Freilerner noch recht klein, wächst aber beständig und beschäftigt sich auch mit Fragen der Definition. Mittlerweile taucht daher immer häufiger der Begriff des „Frei-sich-bildens“ auf. Damit soll das Wort „Lernen“ umgangen werden, das vielen noch zu stark mit dem Bild von Schule verknüpft ist. Daran wir schon deutlich, dass hier ein Prozess zu beobachten ist und – nach meiner Wahrnehmung – auch ein gewisser Wettbewerb um die Deutungshoheit entsteht. Man findet eine große Bandbreite von Interpretationen, was genau denn „Freilernen“ ist. Für manche bedeutet eine Online-Schule schon eine Form des Freilernens, denn es fehlt der oft zitierte „Schulbesuchszwang“ bzw. die „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“ (diesen Begriff mache ich mir explizit nicht zu Eigen, denn er erweckt in der Community den Eindruck eines aktiven Rechtsbegriffs, was er aber in Wahrheit nicht ist). Für andere ist Freilernen eine existentielle Lebensentscheidung, die in aller Konsequenz gelebt wird. Ein wichtiges Prinzip ist grundsätzlich die intrinsische Motivation, die darüber entscheidet, welchem Lern-/Bildungsgegenstand oder welcher Erfahrungssituation das Kind begegnen möchte. Daraus erwächst nach Ansicht der Befürworter des Freilernens eine hohe Identifikation mit einem Lerngegenstand und die Chance auf langfristige „Speicherung“ der Informationen/Erfahrungen/Prozessabläufe im Gehirn steige damit signifikant. Dieses Verständnis teile ich und es gibt auch eine hohe Deckung mit aktuellen Untersuchungen und Forschungen der Lerntheorie, der Lernpsychologie und der Hirnforschung.
Wie so oft ist der Grad aber schmal, zwischen gelingender Begleitung von Freilernsituationen und einem unorganisierten und eher von Hoffnung getragenen Handeln. Aus meiner Sicht reicht es nicht aus, wenn Kinder sich für einen begrenzten Zeitraum in einem anderen Sprachraum aufhalten und dabei die Sprache automatisch „wie ein Schwamm aufsaugen“. Es mag Kinder geben, auf die dies in dieser Form zutrifft, viele andere werden jedoch verunsichert, durch eine ungewohnte Umgebung und die Herausforderung nicht alles, was um sie herum geschieht, zu verstehen und auch im Gegenzug verstanden zu werden. Nach meiner Beobachtung braucht es Rahmenbedingungen, wie wiederkehrende Orte und verlässliche Beziehungen zu anderen Menschen, damit sich gerade jüngere Kinder auf neue Sprachsituationen einlassen und dann auch eigene Sprachmuster entwickeln. Diese Rahmenbedingungen können z.B. Nachbarfamilien, Kinderfreundschaften oder Aktivitäten in Vereinen sein. All dies ist möglich, aber z.B. für reisende Familien nicht immer einfach umzusetzen. Ähnlich verhält es sich mir mathematischen Grundkompetenzen: Die Anwesenheit von Zahlen, z.B. Preisen im Supermarkt, alleine reicht nicht aus, damit sich das Kind Rechenoperationen selbständig erschließt und dieses Wissen aus einer Situation in eine andere übertragen kann. Auch hier braucht es eine Begleitung, sind präsente Eltern notwendig, die die Fragen und Interessen des Kindes wahrnehmen und adäquat auf sie eingehen. Diese Begleitung benötigt tägliche ausreichende Zeitressourcen und Familien, die z.B. auf Reisen gehen und dabei Geld verdienen wollen/müssen, sollten sich dieser Aufgabe bewusst sein.
Roadschooling, Worldschooling & Travelschooling
Mittlerweile entstehen weitere Begriffe, die die Bildung (junger) Menschen außerhalb des Schulsystems und mit Blick auf das jeweilige Lebensmodell einer Familie beschreiben sollen. Auch diese sind nicht trennscharf abgegrenzt, sondern entstehen innerhalb einer Community und drücken das jeweilige Bildungs-Selbstverständnis aus. Durch die sozialen Netzwerke verbreiten sich diese mal mehr und mal weniger schnell und gewinnen an Kontur. Gemeinsam ist ihnen ein Freiheitsgedanke und damit auch die Freiheit, jeden Begriff nach eigener Lesart zu benutzen.